Das Mäuse-Quartier



Veröffentlicht am: 25.01.2024

Es begann vor zwanzig Jahren, als Erika Ess ihre Mitbewohnerinnen und -bewohner in der Adventszeit im Treppenhaus als Mäusefamilien porträtierte. Ein Jahr später entwickelte sie diese Idee mit ihrem Mann Peter in den Fenstern ihres Hochparterre-Eckateliers weiter. An einem Ort, wo sie seit über fünfzig Jahren eingemietet sind. Warum überhaupt Mäuse? «Die Idee kam mir in der Ikea, wo es graue, braune und weisse Mäuse hatte. Das passte irgendwie», sagt Ess. Die Ausstellungen, die jeweils während eines Jahres zu sehen sind, dienten zugleich als Filter, um den direkten Blick ins Atelierchaos abzufangen. So folgten ein Modeschau-Fenster, im Coronajahr eines zum Thema Reisen, Miniatur-Konditoreien, Baustellen. Damit kennt sich der Architekt Peter Ess,  ehemaliger Direktor des Amtes für Hochbauten der Stadt Zürich aus.

Das Mini-Knabenschiessen

Durch die Jahre hindurch wurden die Fensterauslagen immer aufwendiger. Wie etwa das Projekt Knabenschiessen im vergangenen Jahr. Zusammen mit ihrem fotografierenden Mann Peter baute die Werklehrerin Aussteller-Miniaturen nach. Vor dem Hintergrund von Fotografien der Traditions-Chilbi. Immer im Mäuse-Format. Zusammen wird jeweils akribisch an den Konstruktionen getüftelt. Dabei sind sich die Werklehrerin und der Architekt nicht immer auf Anhieb einig. Das Resultat ist jedoch bis in jedes Detail durchdacht und wirkt verblüffend echt. Wie genau die Ausstellung betrachtet wird, beweist der Kommentar eines Knaben, der sich in einer Fotografie wieder erkannte: «Das bin ich»!

Das gespiegelte Quartier

Das Publikum im Spiegelbild. So wurde Anfang Jahr die Idee geboren, «unser Quartier im Spiegel» zu zeigen. Eine Hommage an das Quartier, in dem das Paar seit über 53 Jahren wohnt. Es sind Orte rund um den Idaplatz, mal offensichtlich, mal versteckt. Auch die ominpräsenten Baustellen sind liebevoll nachgebaut. Es war das bisher aufwendigste Jahresfenster, da sind sich beide einig. Anfang Jahr begann die Planung, von Mitte September bis Ende November erfolgte die Umsetzung. Eröffnung war wie immer am 1. Advent-Sonntag Anfang Dezember. 

Warum die Anziehungskraft dieser Installationen? Sie lehrten einem, in der schnelllebigen Zeit etwas zu verharren, zu studieren und zu beobachten, sagt Erika Ess. Kinder zählten etwa die farbigen Abbruch-Schüttbecher – es sind 32. Überhaupt übt die Ausstellung eine Faszination auf Kinder aus. «Viele kommen immer wieder, es ist wie beim Bilderbuch-Ansehen», sagt Peter Ess. Auch beim Veloprüfungs-Parcours muss der Polizist jeweils ein paar Minuten einräumen, damit sich die Viert-Klässlerinnen und -klässler an den Fenstern sattsehen können.


Die Kinder schauen jeweils genau hin. 

Seit Corona auch mit Internet-Eintrag

Aber auch Erwachsene besuchen den Ort und sei es nur, um während Corona auf den Holzbänken aus den beiden gegenüberliegenden Bars etwas zu trinken. Der Aufenthalt in den Innenräumen war bekanntlich verboten. Die beiden guten Seelen von der Gertrudstrasse brachten dann jeweils am darauffolgenden Morgen die liegengelassenen Gläser zurück, nicht ohne ermahnendes Wort an die Beizer. Kein Wunder, dass die beiden auch schon die Aufmerksamkeit von Filmschaffenden auf sich gezogen haben. Und wie ein Film kommt ihnen ihre Einrichtung manchmal auch vor. 

«Amarcord!», ruft Peter Ess, in Anlehnung an den berühmten Fellini-Streifen (zu deutsch: ich erinnere mich). So hätten sie auch schon Weihnachtskarten mit diesem Motto aus ihren Sujets an Freundinnen und Freunde verschickt. Aber auch etwa Fotos mit der inzwischen berühmten Kirschblüten-Allee. Und wie diese hat ihre Lokalität bereits einen Eingang in die globale Community gefunden, unter dem Namen HolidayWindow (Mouse World). 

Und was passiert mit den kunstvollen Stücken, wenn es eine neue Ausstellung gibt? Wird es eine Auktion geben? Erika Ess verneint: «Nein, das wäre aus dem Zusammenhang gerissen». Das Quartierfenster ist ein Gesamtkunstwerk. Tröstlich, dass es noch eine Weile zu bewundern ist.


Donald Trump erklärt Mäusen die Welt. 



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Hippies und Punks im Friedhof



Veröffentlicht am: 25.01.2024

In seiner neuesten Ausstellung zum Thema des nahenden Todes in der Pop- bzw. Rockmusik steht ein Zitat des Sängers Leonard Cohen: «you want it darker». Das war der Titelsong seines zweitletzten Albums. Die Textzeile steht sinnbildlich dafür, dass 70 Jahre nach der Erfindung des Rock ‘n’ Roll das einst ausgerufene Versprechen von ewiger Jugend und ungezügeltem Hedonismus nicht mehr uneingeschränkt gilt. In das Narrativ des klassischen Rocksongs schleicht sich zunehmend das Thema des nahenden Todes ein – durch Alter oder Krankheit, aber auch als insgeheim gefasster Entschluss, sich das Leben zu nehmen. So ist bis heute ungeklärt, «wie» David Bowie aus dem Leben schied. War das ein sanftes Entschwinden, oder ein letzter cleverer PR-Coup des Musikmagiers und Geschäftsmannes? Einfacher war es bei Prince und Michael Jackson, wo Schmerzmittel dem Leben ein Ende setzten. Rock’n Roll stand aber schon früh für das Sinnbild von «live fast, die young». Der «27er-Club» mit Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain und Amy Winehouse legt beredtes Zeugnis der morbiden Seite von «Sex, Drogen & Rock’n’roll» ab. Im fröhlichen «Für immer Jungsein» schwangen schon seit Anbeginn immer tödliche Abgründe mit.

Heiteres zum Tod

Diesen und ähnlichen Fragen ging der Musikexperte Veit Stauffer nach, der bis 2020 in Zürich den bekannten Rec Rec Shop führte. Wer ihn kennt (und das sind viele, so schnell war der Abend ausverkauft), freute sich auf die Mischung von Wissenschaftlichem und Anekdotischem. So gelang es Stauffer, dem schweren Thema Tod auch eine heitere und humorvolle Seite abzugewinnen. Legendär sind etwa das Kokettieren der Hippie-Westcoastband Grateful Dead, welche den Totenschädel seit bald 60 Jahren im Wappen trägt. Ihre Fans, die Deadheads, reisten damals in bunt bemalten Bussen ihren Idolen im ganzen Land (und in Europa) nach und feierten ihre ausufernden, meist mit LSD-getränkten Auftritte, die oft acht Stunden und mehr dauerten. 1971 verleitete dieser Kult um die dankbaren Toten die Plattenfirma sogar dazu, für eine Single-Auskoppelung eine Bastelanleitung für einen Sarg beizulegen.


Veit Stauffer beleuchtet das Thema Tod von der musikalischen Seite her.

Himmel und Hölle

Auch die NDW-Band Palais Schaumburg kokettierte mit dem Sensemann und sang 1981 «Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm». Der «König von Deutschland», Rio Reiser, nannte sein letztes Album treffend «Himmel und Hölle». Eine berührende Anekdote wusste Stauffer zum Titel «Charlotte» (1989) von den Young Gods zu erzählen. Er sass nach einem Studio-Besuch, wo die Genfer Gruppe das besagte Stück aufgenommen hatte, im Tram 4 am Limmatplatz. Dort wurde er Zeuge, wie das abfahrende Tram eben im Begriff war, einen älteren Mann mitzuschleifen. Der beherzte junge Mann zog die Notbremse und rettete diesem das Leben, wie tags darauf in den Medien zu lesen war. Geblieben ist Stauffer die Episode, weil sein Vater damals im Sterben lag. Tod und Leben, so nahe beieinander.

Hommage an Christoph Badoux

Nicht fehlen durfte an diesem Abend Nadja Zela, die in «All» und «Au nümm da» aus dem Album Andromeda, ihrem verstorbenen Lebenspartner und Illustrator Christophe Badoux nachtrauert und sinniert. Er, der weiter hinten im Friedhof begraben ist. So schloss sich der musikalische Abend im altehrwürdigen Friedhof, der nach dem Vorbild des Wiener Zentralfriedhofs 1877 von Stadtbaumeister Arnold Geiser (einem Schüler von Gottfried Semper) erbaut wurde.

P.S. Der Vortrag wird am Dienstag, 24. Oktober 2023 wiederholt (20.00 bis ca. 22.00 Uhr)

«YOU WANT IT DARKER - Songs über den nahenden Tod», Ausstellung im Friedhof Forum bis 11.7.2024 (Ausstellungskatalog, 140 Seiten, Fr. 10.-)

 

 

 



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Auf dem Weg zum Netto-Null-Quartier



Veröffentlicht am: 25.01.2024

Die Stadt Zürich muss umweltfreundlicher werden. An der Volksabstimmung vom Mai 2022 sagten Dreiviertel der Stimmberechtigten Ja zum «Klimaschutzziel Netto-Null 2040». Die grösste Schweizer Stadt hat damit den klaren politischen Auftrag, ihre direkten Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2040 auf Netto-Null zu reduzieren. Die Stadtverwaltung soll dabei mit gutem Beispiel vorangehen und das Ziel bereits fünf Jahre früher erreichen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass mit «Netto-Null» nicht das vollständige Vermeiden jeglichen Treibhausgasausstosses gemeint ist. Das Ziel ist, dass weltweit nicht mehr Treibhausgase ausgestossen werden als der Atmosphäre mit natürlichen oder technischen Mitteln wieder entzogen werden können. Für die Limmatstadt bedeutet Netto-Null damit: In der Gesamtbilanz dürfen im Jahr 2040 keine Treibhausgasemissionen entstehen.

Erste Zwischenbilanz

Im November 2023 hat die Stadt einen ersten Zwischenbericht veröffentlicht. Er soll aufzeigen, wo Zürich steht und auf welche Bereiche die Stadt aktiv Einfluss nehmen kann, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen. Gemäss Zwischenbericht beläuft sich der ökologische Fussabdruck pro Einwohnerin oder Einwohner der Stadt Zürich im Jahr 2022 auf rund 2,4 Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr. Damit ist der Fussabdruck gegenüber dem Jahr 2010 bereits um mehr als ein Drittel kleiner geworden. Dennoch ist das Ziel hochgesteckt, wie auch Stadtrat Andreas Hauri betont: «Unsere Abschätzungen zeigen, dass das Netto-Null-Ziel für die direkten Treibhausgasemissionen auf Stadtgebiet bis 2040 realistisch, wenn auch ambitioniert ist».

Die auf dem Stadtgebiet verursachten Emissionen entfallen hauptsächlich auf drei Bereiche: Gebäude, Mobilität und Entsorgung. Neben dem Bereich Gebäude, wo vor allem das Heizen mit fossilen Brennstoffen mehr als 50 Prozent des Gesamtausstoss von Treibhausgasen ausmacht, ist die Mobilität ein weiterer Haupttreiber des Klimawandels. Auf beide Bereiche kann die Stadt Einfluss nehmen, ist aber für die Erreichung des Ziels auch massgeblich auf die Mitwirkung der Bevölkerung angewiesen. So braucht es etwa die Bereitschaft von Hausbesitzerinnen und -besitzern, ihre Öl- und Gasheizungen gegen Wärmepumpen oder Erdsonden auszutauschen. Und auch die Entscheidung, das Auto stehen zu lassen und stattdessen Velo zu fahren oder zu Fuss zu gehen, ist eine individuelle.

Zukunftslabor Wiedikon

Hier will Zürich mit dem Projekt «Pilotquartier Netto-Null im Gebiet Binz/Alt-Wiedikon» ansetzen. Für die Stadt ist Wiedikon aufgrund der Mischung aus Wohnraum, Gewerbe- und Industriezone als Quartier ideal. Sie will herausfinden, «mit welchen Massnahmen die freiwillige Bereitschaft lokaler Anspruchsgruppen zu einem verstärkten Engagement für die Zielerreichung von ‘Netto-Null 2040’ und der städtischen Energieziele erhöht werden kann». Damit sollen die Klimaziele bei direkten und indirekten Emissionen sowie der Ausbau der lokalen Elektrizitätsproduktion erreicht werden, wie es im Projektbeschrieb zuhanden des Gemeinderats heisst. Die Wiedikoner Bevölkerung und das Gewerbe sollen Netto-Null vorwärtsbringen, die Stadt unterstützt und fördert private Initiative.

Andreas Hauri präzisiert: «Mit dem Pilotquartier möchten wir einen Ort schaffen, wo verschiedene Prozesse und Massnahmen zur Erreichung des Klimaziels gemeinsam erprobt und auch evaluiert werden können. Sozialverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit sind dabei wichtige Kriterien». Die Stadt Zürich will sich das Projekt rund 7,7 Millionen Franken kosten lassen, verteilt auf sechs Jahre.

Das Geschäft werde aktuell bei der zuständigen Sachkommission des Gemeinderats beraten, sagt Ivo Bähni, Leiter Kommunikation der Gesundheitsdirektion auf Anfrage von Quartiernetz 3. Sofern der Gemeinderat dem Projekt zustimmt, könnten die Arbeiten im neuen Jahr starten. Das Projekt «Pilotquartier Netto-Null» richte sich an alle Personen, Unternehmen und Institutionen im Projektperimeter von Wiedikon. «Der partizipative Ansatz des Projekts bietet Formate und Arbeitsweisen an, die den gleichberechtigten Einbezug aller gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure erlaubt und schliesst dabei explizit Gruppen ein, die keine formelle Möglichkeit der politischen Beteiligung haben, wie Kinder, Jugendliche oder Personen ohne Schweizer Pass», ergänzt Bähni. Die Detailplanung des Partizipationsprozesses werde in einer Projektvorbereitungsphase im Anschluss an den Gemeinderatsbeschluss erarbeitet. Gewonnene Erkenntnisse sollen laufend in neue Projekte sowie auf andere Stadtteile übertragen werden. 

Kritik vor dem Start

Während der Ausgang aktuell noch offen ist, ertönt bereits Kritik am Projekt. Für den Quartierverein Wiedikon ist das Vorhaben der Stadt ein «nebulöses Planungsmonster» und ein «klassisches ‘Top-down’-Projekt, bei dem eine allwissende Projektleitung die rund 9000 Köpfe zählende Anwohnerschaft, Firmen, Betriebe und Hausbesitzer im Projekt-Perimeter in einem sechs Jahre dauernden ‘Partizipationsprozess’ zum Mitmachen gewinnen will». Gegenüber der NZZ klagte Präsident Urs Rauber darüber, dass die Stadt den Quartierverein in der Konzeptionsphase des Projekts aussenvorgelassen habe.

Für ein gross angelegtes, wichtiges Projekt, in dem von Partizipation gesprochen wird, ist das in der Tat ungeschickt. Dennoch sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Der Klimaschutz betrifft alle Menschen und kann nicht an die Verwaltung delegiert werden. Dass die Stadt Mittel und Wege erproben will, die Bevölkerung zur aktiven Mitarbeit zu motivieren, ist mehr als legitim. Dass Wiedikon als «Labor» auserkoren wurde, passt zudem: Mit 80,23% Ja-Anteil wurde das Netto-Null-Vorhaben im vergangenen Oktober hier noch deutlicher als im gesamtstädtischen Schnitt angenommen. Nur im Wahlkreis 4 und 5 stimmten noch mehr Menschen zu. Damit dürfte das Anliegen bei den Wiedikerinnen und Wiedikern auf breiten Rückhalt stossen. Sie dürfen sich freuen, dass die Stadt den politischen Auftrag ernst nimmt und bei Netto-Null vorwärtsmacht. Und sie können mit gutem Beispiel vorangehen und der übrigen Stadtbevölkerung Wege aufzeigen, um das Zürich von morgen umweltverträglich und noch lebenswerter zu machen.



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